Leitthemen

Der Ortsausschuss Kiel hat sich nach eingehender Diskussion auf eine Reihe von Leitthemen verständigt, die Innovatives bzw. „Kiel 2019“-Spezifisches im Sinne des Mottos angemessen hervorheben und gleichwohl die Breite unseres Faches adäquat abbilden sollen. Dabei sind wir davon überzeugt, mit einem Schwerpunkt im Bereich konzeptioneller Debatten im Zusammenwirken von Wissenschaft, angewandter und schulischer Praxis (Leitthemen 1 bis 4) sowie mit dem Themenfeld der Digitalisierung neue Akzente setzen zu können. Von besonderer Wichtigkeit ist es uns zu betonen, dass kritische Perspektiven auf Geographie und Geographien nicht nur in dem so benannten Leitthema behandelt werden, sondern vielmehr auch als Querschnittsaufgabe zu sehen sind. Analog gilt dies für andere Leitthemen, wie „Geographie und Praxis“ und „Geographie und Bildung“, die keineswegs nur von der vermeintlich zuständigen Kolleg*innengruppe bedient und besucht werden sollten.

Die Leitthemen im Einzelnen:

1. Umbrüche und Aufbrüche: Theorien und Konzepte der Geographie im Wandel
50 Jahre nach dem historischen Geographentag in Kiel geht es um eine generelle Bestandsaufnahme und Bewertung der theoretischen, methodologischen und gesellschaftlichen Um- und Aufbrüche, die unser Fach seitdem geprägt haben, und um die Entwicklung von Zukunftsperspektiven für die Geographie bzw. ihre Teildisziplinen. Neue konzeptionelle Ansätze, grundlegende Forschungsorientierungen und zentrale Herausforderungen werden diskutiert und die verschiedenen Wissenschaftsverständnisse der Geographie reflektiert. An diesen Debatten über das Selbstverständnis der geographischen Forschung und Lehre im Umgang mit ihren Grundfragen, ihrer Historie und ihrer aktuellen Verantwortung beteiligen sich Physische Geographie, Humangeographie, Angewandte Geographie und Geographiedidaktik.

2. Geographien in kritischer Perspektive
Die engagierte Kritik an Ungerechtigkeiten, offenen bzw. versteckten Herrschaftsstrukturen und Ausbeutungsverhältnissen gehört zu einem Kernanliegen der Geographie. Die Kritische Geographie stützt sich dabei u.a. auf Konzepte aus der postkolonialen, feministischen und marxistischen Theorie und thematisiert z.B. das Verhältnis von Macht und Raum, autoritäre politische Tendenzen oder die Transformation des Staates. Auch die wissenschaftliche Positionierung gegenüber aktuellen gesellschaftlichen Fragen wie Klimagerechtigkeit, der europäischen Asylpolitik, Militarisierung, dem Umgang mit populistischen Bewegungen oder der zunehmenden Touristifizierung bzw. Finanzialisierung der Stadt- und Regionalentwicklung wird diskutiert. Und nicht zuletzt spielt auch die kritische Betrachtung der eigenen Forschungspraxis und die forschungsethische Reflektion der eigenen Positionalität eine wichtige Rolle bei der Weiterentwicklung der Geographie zu einer Wissenschaft, die die eigene gesellschaftliche Verantwortung nicht nur akzeptiert, sondern darüber hinaus auch aktiv annimmt.

3. Geographie und Praxis

Auf dem historischen Geographentag in Kiel 1969 forderten viele eine stärkere praktische Relevanz der Geographie und eine Hinwendung zu anwendungsorientierten Themen. 50 Jahre später hat die Angewandte Geographie ihren festen Platz in der planerischen Praxis gefunden und trägt substanziell zur Bewältigung konkreter gesellschaftlicher Herausforderungen bei. Von der Lenkung des Einzelhandels über die Integration klimatologischer Dimensionen in die Planung bis hin zur Gewährleistung der medizinischen Versorgung in städtischen und ländlichen Räumen gibt es zahlreiche aktuelle Fragen, zu deren Beantwortung die angewandte Geographie wissenschaftlich untermauerte Strategien beisteuern kann. Die Diskussion wird allerdings auch das Selbstverständnis der Angewandten Geographie, ihre Beziehung zur geographischen Forschung und auf die zukünftige Entwicklung geographischer Aufgabenfelder und Arbeitsmärke in den Fokus nehmen.

4. Geographie und Bildung
Unter dem Leitthema „Geographie und Bildung“ firmieren Fachsitzungen mit hoher schulpraktischer Relevanz zu spezifischen Themenfeldern des Geographieunterrichts und ihren Inszenierungsmöglichkeiten inklusive des Einsatzes innovativer Methoden sowie konventioneller und IT-Medien. Das Fachverständnis in Gegenwart und Zukunft wird ebenso erörtert wie der Umgang mit Raumkomplexität und Kontroversität. Eine Vielzahl von Beiträgen aus der aktuellen geographiedidaktischen Forschung verstehen sich als Impulse für eine geographische Bildung, die Paradigmen, Raumkategorien und aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen aufgreift und lern- sowie werteorientiert ist. „Geographie und Bildung“ wird aus der Forschungsperspektive, der Perspektive der Lehrerbildung und einer lernorientierten Unterrichtsgestaltung heraus betrachtet. Gesellschaftlicher Wandel, Bildungsauftrag und die Verantwortung von geographischer Bildung – das ist gewissermaßen das Querschnittsthemenfeld, welches eine Vielzahl von Sitzungen zur Schulpraxis und zur geographiedidaktischen Forschung prägt. In der Keynote werden dazu passend Schulgeographie und Geographiedidaktik in ihren spannenden Entwicklungen seit dem Geographentag Kiel ´69 gespiegelt.

5. Geographie und Globaler Wandel
Die Gestaltung von Mensch-Umweltbeziehungen in Zeiten großer sozial-ökologischer Herausforderungen, die sich auf alle gesellschaftlichen Ebenen auswirken, betrifft Kernfragen der Geographie und aller Teildisziplinen. Die Weiterentwicklung von Konzepten und Methoden, vor allem auch in inter- und transdisziplinärer Perspektive, ist dabei zentral und versteht sich in mancher Hinsicht selbst als Teil einer sozial-ökologischen Transformation, die auch das Selbstverständnis von Wissenschaft berührt. Die Untersuchung des Klimawandels und dessen Implikationen und Auswirkungen sind dabei ein wachsender Bereich der Arbeit von Geograph*innen, der bei der Zukunftsgestaltung von Infrastrukturen, Gesundheitssystemen, Agrarwirtschaft und anderen wichtigen Gebieten des öffentlichen Lebens gefragt ist. Gleichzeitig wirkt sich der Globale Wandel erheblich auf die Vulnerabilität von Menschen und Gesellschaften aus und auf ihre Fähigkeit, auf den Wandel zu reagieren. Anpassungsmaßnahmen und andere Politiken wie beispielsweise im Bereich der Ressourcenknappheit bringen dabei soziale Auswirkungen und Zielkonflikte mit sich, die Konfliktpotential bergen und die wiederum von Geograph*innen untersucht und begleitet werden.

6. Umweltprozesse und Umweltmodellierungen
Die Fachsitzungen zu diesem Leitthema diskutieren innovative Ansätze zur Beobachtung, Untersuchung und Modellierung räumlicher Prozesse. Einen Schwerpunkt bilden dabei Ansätze zur skalenübergreifenden Modellierung von Landoberflächenprozessen, wobei Prozesse der Bodenerosion und der Landschaftsdegradation im Mittelpunkt stehen. Ein weiterer Schwerpunkt ist der Gewinnung und Auswertung räumlich und zeitlich differenzierter Umweltgeodaten mittels Satellitenfernerkundung und drohnenbasierter Nahbereichserkundung gewidmet. Anhand von Fallbeispielen werden darüber hinaus Anwendungen zur Assimilation von in situ-Fernerkundungsdaten in Umweltmodelle vorgestellt und erörtert.

7. Gesellschaft, Bevölkerung und Wirtschaft in Bewegung
Gesellschaft, Bevölkerung und Wirtschaft befinden sich in einem stetigen Wandel. Migrationsbewegungen führen zu neuen Raum- und Sozialstrukturen, stellen Politik und Zivilgesellschaft vor neue Herausforderung und initiieren neue soziale, kulturelle und institutionelle Entwicklungen. Geographische Entwicklungsprozesse verändern bzw. verstärken bestehende Ungleichheiten zwischen Nord und Süd bzw. Stadt und Land, verändern die Funktionen von Räumen und machen neue Formen der politisch-planerischen Lenkung notwendig. Der Ausbau der Wissensökonomie und globaler Produktionsnetzwerke, die Dynamik der Arbeitswelt und die Veränderung regionalpolitischer Strategien stellen die Wirtschaftsgeographie vor neue konzeptionelle und empirische Herausforderungen. Und nicht zuletzt muss inmitten dieses Wandels auch die Rolle des Staates, des Marktes und anderer Koordinationsformen immer wieder neu bestimmt werden.

8. Stadt-Land-Welten
Die 25 Fachsitzungen dieses Leitthemas adressieren zum einen die eigenen „Welten“ von Stadt und Land, zum anderen werden wirtschafts-, sozial- und kulturgeographische Prozesse in den vermeintlich sehr unterschiedlichen Raumausschnitten in Zusammenhängen von Abhängigkeiten und Wechselwirkungen untersucht. Wachstum und Schrumpfung, Postwachstumsansätze, soziale Ungleichheit, Migration und Integration, Daseinsgrundvorsorge und kritische Perspektiven auf politische Steuerungen, Praktiken und politische Agency: Themenfelder und konzeptionelle Herangehensweisen in den Fachsitzungen decken ein breites Spektrum geographischer Forschung ab. In besonderem Maße werden dabei aktuelle Fragen von Bodenpolitik und sozialer Wohnungsversorgung sowie alternative Konzepte urbaner Wohnungspolitiken angesprochen, ländliche Peripherien in Deutschland und Europa, u.a. im Kontext von Migrationsprozessen thematisiert und aktuelle Prozesse in urbanen Peripherien im Globalen Süden in Zeiten von Finanzialisierung und Neoliberalismus diskutiert.

9. Digitalisierung und Geographie
Die Digitalisierung berührt die Geographie in vielerlei Hinsicht: Zum einen eröffnen sich mit der Weiterentwicklung digitaler Verfahren neue Wege bei der Erfassung, Verarbeitung und Präsentation raumbezogener Daten. Big Data, Virtual Reality, neue Methoden der Erdbeobachtung und Geodatenanalyse aber auch offen zugängliche Kartographie-Tools, wie z.B. Open Street Map, bieten der geographischen Forschung und Lehre zahlreiche neue Instrumente und Möglichkeiten. Zum anderen verändert sich unser Leben mit der zunehmenden Durchdringung unseres Alltags durch die Digitalisierung. Einzelhandel, Verkehr, Stadtentwicklung, Tourismus, soziale Kommunikation oder politische Meinungsbildung erfahren momentan einen tiefgreifenden, digitalen Strukturwandel. Für die Geographie besteht die Herausforderung nun u.a. darin, die daraus resultierenden neuartigen Raumstrukturen zu analysieren, zu prognostizieren und zu lenken.